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Aus Mitleid: Immer mehr Heimbewohner pflegen überarbeitete Pflegekräfte

Berlin (dpo) - Sie ist zu erschöpft, um selbst zu essen: Altenpflegerin Leonie Kersting (41) kann nur noch hungrig den Mund öffnen. Zum Glück gibt es Irmtraud Schultze. Gekonnt führt die 86-jährige Heimbewohnerin den Löffel zum Mund ihrer Lieblingspflegerin. Sie hat ihr die weißen Kunststoffsandalen ausgezogen und ein Lätzchen über die blaue Arbeitskleidung gebreitet.

"Frau Kersting ist neulich auf dem nassen Boden im Bad gestürzt, als sie gleichzeitig vier Bewohner waschen und sechs weiteren auf die Toilette helfen sollte", erklärt die patente Seniorin. "Deshalb kümmern wir uns jetzt im Drei-Schicht-System um sie."

Derartige Szenen spielen sich inzwischen immer häufiger in Deutschland ab: Pflegebedürftige Menschen kümmern sich um ihre vollkommen überarbeiteten und ausgepowerten Pflegekräfte, päppeln sie auf oder füttern sie.

"Wir sehen, dass diese armen jungen Leute einfach nicht mehr können und deshalb versuchen wir, ihnen zu helfen", berichtet Gernot Pawolliak (91), während er die Beine der ausgebrannten Pflegerin hochlagert. "Meistens reicht es, wenn man sie ein bisschen stützt, ihnen ein wenig die Schultern massiert oder sie daran erinnert, zwischendurch auch mal etwas Wasser zu trinken."

Das sei auch kein Problem, immerhin kämen auf eine erschöpfte Pflegekraft bis zu acht Senioren: "Das ist ein hervorragender Personalschlüssel. Da können wir uns die Arbeit an den armen Leuten gut aufteilen", so Pawolliak. "Ich bin froh, dass wir auf diese Weise den Schwächsten unserer Gesellschaft helfen können."

Auch wichtig: Einfach mal zuhören. "Manchmal hilft es den stark geschwächten Pflegerinnen und Pflegern schon, wenn sie jemanden zum Reden haben. Dann erzählen sie oft von früheren Zeiten, als sie noch voller Optimismus mit ihrem Job angefangen haben", berichtet Irmtraud Schultze.

Die Zeit vor dem Pflegenotstand kommt den Heimbewohnern zwar wie eine unrealistische fremde Welt vor, in die sich inzwischen bestimmt viel Fantasie gemischt hat, aber zuhören kann man ja trotzdem.

dor, ssi, dan; Foto: Shutterstock; Erstveröffentlichung: 21.2.23
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