Rückblickend hätte ich auf die vielen Warnungen von Freunden und Familienmitgliedern hören sollen: "Agnes, was du da vorhast, ist gefährlich!", "Mama, da rasen Autos mit Vollgas durch!". Doch nach der Scheidung von meinem Mann Dietrich im Frühling 2022 wollte ich noch einmal das Adrenalin spüren, das ich in den letzten Jahrzehnten so lange vermisst hatte.
Ich beschloss, ein Leben auf der Überholspur zu führen. Genauer gesagt war es die linke Spur der A5 beim Autobahndreieck Karlsruhe.
Ich wollte nicht wie so viele Geschiedene in einer Einzimmerwohnung in irgendeinem Vorort landen. Also zog ich mitten ins pulsierende Leben auf die A5: Pendler und Reisende aus ganz Europa fahren hier jeden Tag vorbei. Langeweile oder Stillstand gibt es nur, wenn gerade Stau ist.
Ich kam schon immer mit wenig zurecht, mein Bett und meine Küchenzeile passten perfekt neben die Leitplanke. Leider fuhr schon nach fünf Minuten ein unachtsamer Porschefahrer meine Labubu-Sammlung platt. Aber von solchen Startschwierigkeiten ließ ich mich nicht unterkriegen.
Zufrieden schloss ich am ersten Abend in meinem neuen Zuhause die Augen, während mich das empörte Hupen der Autofahrer, das wie Meeresrauschen durch meine Ohrstöpsel drang, sanft in den Schlaf wiegte. Als ich etwa 40 Minuten später jäh wieder erwachte, war gerade eine Mercedes-S-Klasse über meine Beine gerollt. Ein Geschäftsmann aus der Schweiz war ohne Vorwarnung durch mein Bett gerast. Wäre er nur ein wenig weiter links gefahren, wäre ich heute tot.
An die darauffolgenden Tage und Wochen erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft. Es sind Erinnerungsfetzen: Ein Notarzt, der mich anschreit, was verdammt nochmal ich auf der Überholspur verloren habe. Krankenpflegerinnen, die mich anschreien, was verdammt nochmal ich auf der Überholspur verloren habe. Ein Chirurg, der mich anschreit, was verdammt nochmal ich auf der Überholspur verloren habe. Ein Polizist, der meine Anzeige wegen Hausfriedensbruch gegen den Mercedesfahrer abweist und mich anschreit, was verdammt nochmal ich auf der Überholspur verloren habe.
Mittlerweile habe ich meine Lektion gelernt und setze lieber auf Ruhe und Gelassenheit: Derzeit wohne ich auf dem Standstreifen der A7 bei Kassel.
ssi, dan; Foto: Shutterstock; Aus: Ausgabe 3 des gedruckten Postillon. Jetzt abonnieren!
